Mittwoch, Dezember 27, 2006

Die Menschenkinder haben Sprache, wissen aber nicht, wie und
woher? ob ein Engel vom Himmel sie gebracht habe? oder ob sie
auf Erden ausgebrütet worden? aus der Bärmutter der warmen
Empfindung und Leidenschaft? oder der kalten Verabredung?
In Ermanglung eines bessern bestieg ein jeder eine Hypothese
die ihm die besten Knöchel zu haben schien, und schwang seinen
Speer. Da forderte nun die Akademie der Wissenschaften in Berlin
die Gelehrten weit und breit auf, diese Ritter zu erlegen und auf
einer neuen Rosinante ins Feld zu kommen, oder auch einen von
ihnen neu auszustaffieren und sein Sancho Pansa zu werden.
Herr Herder kam, sammlete Halme aus der Natur der Seele des
Menschen und seiner Organisation, aus dem Bau der alten Sprachen
und dem Fortgange derselben, aus der ganzen menschlichen
Ökonomie etc., band seine Garbe und stellte sie hin -: Schrei der
Empfindung ist nicht Sprache, nicht ihr Blatt noch ihre Wurzel,
sondern der Tautropfen der sich an Blätter und Blüten anhängt und
sie belebt; das Tier ist immer auf einen Punkt dicht an den sinnlichen
Gegenstand geheftet; der Mensch kann seinen Blick losreißen, wendet
ihn von einem Bilde zum andern, weilet auf einem, sondert sich
Merkmale ab, und hat nun schon ein Wort zur Sprache in sich, das er
von sich gibt, nach dem Ton der sein Ohr dabei trifft, und nach dem
Resultat der Gärung unter den Bebungen der übrigen Seelensaiten -
und so bildet sich nach und nach eine Sprache analogisch, mit der
übrigen Bildung des Menschengeschlechts etc.
(Abhandlung ueber den Urspung der Sprache, Herder 1772)