"Das Berlinische ist nicht, wie man immer wieder lesen kann,
ein regelloses Gemisch in verwahrloster Form, sondern in
seiner Geschichte deutlich faßbar. Seine Elemente liegen klar
vor uns: der Lautgestalt nach ist es die im 16. Jahrhundert
aus dem Obs. [Obersächsischen] entlehnte Sprachform, ist
es hochdeutsch, und wenn bei Dialektfragen die Lautgestalt
zugrunde gelegt wird, so ist das Berlinische nur als
'hochdeutscher' Dialekt zu bewerten. Aber diese Lautgestalt
wurde von einem niederdeutschen Volke übernommen und
erhielt dadurch in Intonation und Ausprache 'niederdeutschen
Charakter'. Zunächst vom höheren Bürgerstand getragen,
gewinnt dies Berlinische allmählich die unteren Schichten,
die in Wort- und Formenschatz dem Niederdeuschen näher
geblieben waren. Wenn die obere Klasse es zugunsten der
Schriftsprache aufgibt, wenn es sich in die unteren Kreise
zurückzieht, so dringen einige der hier lebenden etwas
gröberen Formen vor. Im Wortschatz endlich finden wir
die Spuren aller Epochen, die unsere Sprache durchlaufen
hat, aber auch aller der Beziehungen, die in Berlin
zusammenströmen, schließlich den charakteristischen
Widerklang der berlinischen Geistesart. Statt der
geschichtslosen Form finden wir im Gegenteil eine in
ihrer Schichtung besonders interessante Bildung,
und so dürfen wir auch hier wieder einmal feststellen,
daß Berlin besser ist als sein Ruf.
(Agathe Lasch erste deutsche Germanistikprofessorin
*1879 - 1942 - deportiert und ermordert)